Bis zur re:publica, der grossen Digital-Konferenz in Berlin, war ich noch der Meinung, Coworking ist ein Teil von Arbeiten 4.0. Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Die jüngsten Erfahrungen zeigen mir, wie wichtig es ist, eine klare Sonderstellung zu behalten…
Arbeiten 4.0 ist stark von klassischen Strukturen geprägt – das liest sich auch in dem Grünbuch Arbeiten 4.0 aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Daraus soll in Dialogen – wie z.B. jüngst mit Ministerin Nahles auf der re:publica – ein Weißbuch entstehen, in dem die Leitplanken für die Neugestaltung der Arbeitswelt von morgen formuliert werden.
Coworking geht in der Praxis daran, neue Gestaltungsräume und Organisationsformen zu formen. Und das ist meiner Erfahrung nach der Weg, wirklich Innovation zu betreiben. Wir können noch so über neue Formen reden und diskutieren – ausprobieren, anders machen und verfeinern im „Gebrauch“ ist dagegen näher dran.
Daher: 5 Gründe, warum Coworking in der Future of Work-Thematik auf jeden Fall eine Sonderstellung gebührt.
1. Weil ich Sascha Lobos „The Age of Trotzdem“ gehört habe.
Montagabend gab der re:publica wieder Sascha Lobo die Ehre. Für jemanden wie mich, die 1986 den ersten PC hatte und seit 1988 online ist, sehr nachvollziehbar, was Sascha vortrug. Ich will das hier nicht im Detail nachbeten, hier steht bereits die Aufzeichnung von „The Age of Trotzdem“ bereit (Angucken!).
Er sprach u.a. darin an, dass es eine Art „Digitaler Cargo Kult“ in und um das Internet zu beobachten gibt: Besonders die spätberufenen Onliner glauben zu wissen, wie das Internet oder Social Media funktioniert, haben aber die grundlegenden Prinzipien überhaupt nicht verstanden (ab 33:47).
Kurz eine Passage aus Wikipedia zur Erläuterung des Cargo Kult:
„Die Kultausübenden nahmen an, die Ausländer verfügten über einen besonderen Kontakt zu den Ahnen, die ihnen als die einzigen Wesen mit der Macht erschienen, solche Reichtümer auszuschütten. Indem sie die Ausländer nachahmten, hofften sie, auch ihnen möge ein solcher Brückenschlag gelingen. In einer Art der sympathetischen Magie bauten sie zum Beispiel lebensgroße Flugzeugmodelle aus Stroh oder schufen Anlagen, die den militärischen Landebahnen nachempfunden waren, in der Hoffnung, neue Flugzeuge anzuziehen.“
2. Weil mir in Gunter Duecks Vortrag über Cargo Kulte klar wurde was gerade geschieht.
Am Dienstagmorgen war ich dann bei Gunter Dueck „Cargo Kulte“ und hörte mir an, wie in vielen Unternehmen eigentlich gute Tools nicht verstanden werden (auch hier empfehle ich die Aufzeichnung). Methoden werden wie Cargo Kulte angewendet: zum Beispiel Kick-offs oder Brainstormings.
Wenn das Management nicht mehr weiter weiß, kommen Motivationssprüche auf Tassen #rpTEN @wilddueck pic.twitter.com/MNKcBQKzCQ
— Silke Loers (@SiLoers) 3. Mai 2016
Gunter Duecks Perspektive: Da ist eine gute Idee wie aktuell beispielsweise Design Thinking, dafür werden viele Leute in Schulungen geschickt, um dann unverstanden dieses Konzept im Unternehmen einsetzen, weil sie glauben, dass ein Design Thinking Meeting die Lösung ihrer Probleme ist. Ohne durchdrungen zu haben, was das Konzept tatsächlich umfasst. Scheitert das Ganze, dann lesen wir das an den Motivationssprüchen auf den Kaffeetassen ab: „Team“, „Innovate!“ oder noch schlimmer: „Win!“ Guter Hinweis, Gunter Dueck, so hatte ich das noch nie betrachtet.
3. Weil mich dann ein Kaffeebecher erschreckt hat.
Nach dem Vortrag erbitte ich einen Capuccino am Stand des Bundesministriums für Arbeit und Soziales – Gracias! Aber dann. Da steht „#ARBEITENVIERNULL“ drauf. Wow. So schnell ist es schon, da wird Arbeiten 4.0 gepredigt und eigentlich noch disktutiert (Grünbuch, Weissbuch) – und heute steht das schon auf dem Kaffeebecher.
Was hatte Gunter Dueck eben von den auf Kaffeetassen gedruckten Worten erzählt? Damit dürfte schon vorgezeichnet sein, wie wenig tatsächlich revolutionierendes Future of Work in den Arbeiten 4.0 Bestrebungen stecken mag.
4. Weil Coworking Werte wichtige Lehren aus Problemen der Arbeit und Gesellschaft sind.
Auf einmal wurde mir auch klar, was gerade in einem mir am Herzen liegenden Themenfeld Coworking geschieht. Coworking, das ich, wie eingangs angemerkt, als Teil von Arbeiten 4.0 begriff. Aus dem Nichts werden zwei Mietschreibtisch-Anbieter durch unsere verschiedensten Medien hofiert, die aus dem Ausland bei uns Designer-Tempel zum Arbeiten hinstellen. Quasi Regus-Büro-Häuser ohne Zwischenwände. Hallo? Wo waren die wohlwollenden Artikel über die vielen kleinen Coworking Spaces, die es seit 2009 (betahaus, Berlin) in Deutschland gibt?
In Coworking Spaces weltweit und in Deutschland wird seit Jahren die Zukunft der Arbeit erfunden, ausprobiert und weiterentwickelt – darüber wurde in den Medien so gut wie nie berichtet. Ok, diese Gruppierungen melden keine sensationellen Umsatzprognosen, denn sie arbeiten mit den Coworking-Werten Collaboration – Openness – Community – Accessibility – Sustainability und im Sharing-Prinzip mit geringer Gewinn-Marge, wenn es läuft. Das sind die neuen Werte, die auf gesellschaftliche und erwerbstätige Probleme neue Antworten gefunden haben.
Das Neue ist nicht wie traditionelle Organisationen, damit offenbar zu kompliziert und zu divers für die mediale Bearbeitung. Ja, es ist schon aufwändig bei der Recherche, wenn jeder Space anders ist abhängig von Coworking Host und Community. Aber hey: Verallgemeinerungen sind unzutreffend, wenn eine neue Form des Arbeitens erst dabei ist sich herauszubilden. Für Aussenstehende sind toll designte Arbeitsstätten offensichtlich griffiger als die Coworking Spaces mit Coworking Spirit, die Veränderung gut finden und sich im Sinne ihrer Coworker entwickeln.
Dabei aber nicht vergessen: Die Hinweise verdichten sich, wie stark das berufliche Leben von Veränderung betroffen sein wird. Veränderung nur wie einen der angesprochenen Cargo Kulte auszuüben, bringt da wenig. Vielleicht ist ja Arbeiten 4.0 genau so ein Hoffnungswort für Unternehmen und Politik, dass Veränderung verheisst, an dass es zu glauben gilt. Es greift zu kurz.
5. Coworking denkt vom Menschen her, nicht von Strukturen oder Design.
Als 2009 Coworking nach Deutschland schwappte begeisterte mich sogleich: Coworking hat mit Menschen zu tun und stellt diesen in den Fokus. Diese neue Form des (Zusammen)Arbeitens und der gegenseitigen Unterstützung muss gelebt/erlebt werden, um das Neue zu erfassen. Dabei bleibt es flexibel und anpassungsfähig, um mit der Coworker Community Schritt zu halten, sowie sie weiter zu inspirieren.
Das ist vielleicht die schwerste Lektion für traditionelle Organisationen und Strukturen. Da erinnere ich nur an die Schwierigkeiten, sich in die Erlebniswelt der Kunden einzufühlen. Und diese Individualität ist zugleich eine der Herausforderungen für Coworking Hosts, ihre Coworker miteinander zu vernetzen und auf deren Bedürfnisse nach Möglichkeit eingehen. Mit ihnen gemeinsam den Space aufbauen, der ein neues kreatives Schaffen beflügelt.
Ich wünsche mir, dass Coworking durch diese vielen kleinen unabhängigen Flämmchen mit engagierten Coworkern als glühende Funken der Innovation weiter die Zukunft der Arbeit gestalten. Kein Cargo Kult, sondern gelebte Realität und inspierende Wegweiser für die Zukunft.
Coworker Necessities im Idea Speed Dating auf der Coworking Europe Conference 2014
2 Antworten zu „re:publica Cargo Kult und Coworking“
[…] Über alle Gespräche hinweg waren sich die Teilnehmenden einig: Coworking ist ein wichtiger Baustein der Zukunft der Arbeit – und schon heute nutzbar. Coworking ist dabei sich mehr und mehr zu diversifizieren. Wir sehen gerade quasi mal die Spitze des Eisbergs. Und ja, es wird nicht immer viel Coworking Spirit enthalten sein, nur weil es über dem Eingang steht. […]
[…] Entwicklung dazu. Wie es auch hier bereits zu Cargo-Kult-artigen Phänomenen kommt, habe ich im Blogbeitrag re:publica Cargo Kult und Coworking […]